Verbraucherschutz und Produktsicherheit

„Praktikable Lösung statt Datenfriedhof“

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VdL-Hauptgeschäftsführer Dr. Martin Engelmann
VdL-Hauptgeschäftsführer Dr. Martin Engelmann
Giftinformationszentren: Eigentlich als Unterstützung für ratsuchende Eltern und Verbraucher gedacht, jedoch mangelhaft umgesetzt.
Giftinformationszentren: Eigentlich als Unterstützung für ratsuchende Eltern und Verbraucher gedacht, jedoch mangelhaft umgesetzt.

VdL befürchtet Milliardenkosten durch die neuen Giftinformationszentren und fordert eine Überarbeitung der EU-Verordnung. 

Die neuen Regelungen zur harmonisierten Meldung von chemischen Gemischen an die nationalen Giftinformationszentren der EU-Mitgliedsstaaten stehen vor der Tür. Die Mitteilungspflichten nach Anhang VIII der CLP-Verordnung treten stufenweise in Kraft, für Verbraucherprodukte sollen sie bereits ab 1. Januar 2020 gelten.
Der Verband der deutschen Lack- und Druckfarbenindustrie (VdL) befürchtet eine dramatische Kostenwelle, die auf die Branche zurollt. Auch die dringend benötigte Software stehe den Herstellern noch nicht zur Verfügung. VdL-Hauptgeschäftsführer Dr. Martin Engelmann fordert daher im Interview eine Verschiebung der neuen Regelung um zwei Jahre.

Das Interview mit Dr. Martin Engelmann führte Kirsten Wrede von "Farbe und Lack".

Inwiefern ist die Farben- und Lackindustrie von der neuen harmonisierten Meldepflicht an die Giftinformationszentren betroffen?

Dr. Martin Engelmann: Die Branche ist besonders von der Meldepflicht betroffen. Das Grundproblem liegt darin, dass durch die immer schärfere EU-Einstufung von Stoffen als „gesundheitsgefährlich“ immer mehr Verbraucherprodukte meldepflichtig werden. Ein Beispiel dafür ist das weit verbreitete Konservierungsmittel MIT. Für Produkte mit solchen Stoffen muss grundsätzlich die gesamte Rezepturgemeldet werden. Nun hat jeder Farbton eine eigene Rezeptur. Daher gibt es in unserer Branche geschätzte 600.000 Rezepturen, die mindestens einmal im Jahr produziert werden. Und das betrifft allein die deutsche Industrie.
Eine Machbarkeitsstudie im Auftrag der EU-Kommission hat die Betroffenheit verschiedener Branchen in Europa untersucht, u.a. auch die Farben- und Lackindustrie. In einem Zwischenbericht, die finale Fassung soll Ende Mai veröffentlicht werden, ging man davon aus, dass die europäische Farben- und Lackindustrie derzeit insgesamt etwa 150.000 Meldungen an die nationalen Giftinformationszentren weiterleitet. Jetzt wird erwartet, dass sich diese Zahl ab 2020 verdreihundertfacht auf 44,5 Millionen Meldungen pro Jahr! Das wäre mit enormen Kosten und Aufwand verbunden und löst große Betroffenheit aus.

Welche Kosten könnten denn auf die Farben- und Lackhersteller zukommen?

Engelmann: Wir haben mal versucht, das anhand der deutschen Industrie auszurechnen. Dabei sind wir davon ausgegangen, dass etwa ein Viertel der Meldungen aus Deutschland stammen könnte. Das würde für uns rund elf Millionen Meldungen pro Jahr bedeuten.
Die Kosten lassen sich leider immer noch nicht genau bemessen, weil die Software-Tools, die solche Meldungen ermöglichen sollen, noch immer nicht vollständig eingerichtet sind. Es gibt zwar eine erste Freischaltung des zentralen Meldeportals der ECHA, aber damit ist noch keine vollständige Meldung möglich.
Eine Untersuchung des Statistischen Bundesamtes geht anhand der niedrigsten Schätzung von 33,50 EUR pro Meldung aus. Dann wären wir bei 369 Millionen EUR pro Jahr allein für die deutsche Farbenindustrie. Viel realistischer sind aber wohl 220 EUR pro Meldung, von denen die Europäische Kommission ausging, als sie diesen Harmonisierungsvorschlag vorlegte. Das wären für die deutschen Farben und Lackhersteller über 2 Mrd. EUR! Bei einer Industrie, die pro Jahr 7 Mrd. EUR umsetzt, wäre das ein nicht zu bewältigender Aufwand. Fragt man die Hersteller selbst nach ihrer Einschätzung, könnten die Kosten – zumindest am Anfang – sogar noch weit höher liegen. Das liegt vor allem daran, dass jede Meldung weiterhin händisch und nicht automatisch er- folgt und wir von mindestens zwei Stunden Aufwand ausgehen.

Was kritisieren Sie an den geplanten Regelungen?

Engelmann: Die Idee war ursprünglich, dass die Rohstoffhersteller die Daten in ein computergestütztes System einspeisen und die Meldungen innerhalb der Wertschöpfungskette über Software-Lösungen automatisch generiert werden. Das funktioniert aber nicht. Die Hersteller von Farben- und Lacken haben die erforderlichen Daten der Rohstoffhersteller häufig gar nicht vorliegen. Die Mitarbeiter in den Laboren müssten die notwendigen Informationen selbst aufwändig recherchieren. Die Hersteller bekommen in der Regel auch nicht nur einen einzelnen Stoff geliefert, sondern Gemische. Wenn man sich aber andererseits anschaut, dass Farbe und Lacke beim Thema Giftinformation kaum eine Rolle spielen, wird der Widerspruch noch deutlicher: Immens hohen Belastungen der Hersteller stehen fast gar keine Anfragen bei den Giftinformationszentren gegenüber. 

Gibt es weitere Kritikpunkte?

Engelmann: Die Idee einer Harmonisierung, eine einheitliche Meldung zu ermöglichen, ist durchaus richtig. Die ECHA könnte als Verteilstelle an die einzelnen Giftzentren dienen. Bei der Diskussion wurde allerdings die innerhalb der EU strengste Regelung zugrunde gelegt. Das bedeutet: Alles muss angegeben werden, selbst der Wasseranteil. Niemand hat sich getraut, eine sinnvolle Regelung oder sogar etwas Neues vorzuschlagen. Weil man aber eingesehen hat, dass die Neuregelung zu weit geht, hat man für die Farben- und Lackindustrie eine Ausnahmeregelung getroffen.
Die Machbarkeitsstudie belegt nun eindrucksvoll, dass diese als Erleichterung gedachte Regelung bei über der Hälfte der der Farben und Lacke nicht funktioniert, statt einer praktikablen Lösung bietet sie „Steine statt Brot“.

Welche Änderungen an der geplanten Regelung schlagen Sie vor?

Engelmann: Die Mehrzahl der Mitgliedsstaaten und die Kommission haben erkannt, dass für Farben und Lacke die Meldefrist 1.1.2020 nicht funktionieren wird und daher verschoben werden muss. Wir appellieren an die Kommission, diese Verschiebung sehr zeitnah in Kraft zu setzen und sprechen uns für eine Verschiebung um zwei Jahre aus. Und wenn man weiß, wie lange solche Diskussionen auf europäischer Ebene dauern, ist das wahrscheinlich immer noch knapp.
Wir setzen uns dafür ein, dass die vorgesehene Erleichterung für Farbstoffe praktikabel ausgestaltet wird und die vorgesehene Einschränkung zu streichen.

Wir brauchen so bald wie möglich Rechtssicherheit. Die Firmen sind sehr besorgt, dass es noch immer keine Möglichkeiten gibt, die eigenen Software-Lösungen an das ECHA-System anzukoppeln. Manuell ist die Eingabe angesichts der vielen Rezepturen einfach nicht machbar. Die Meldung an die Giftinformationszentren ist auch eine Vermarktungsvoraussetzung. Die Hersteller sitzen im Moment wie auf heißen Kohlen, da ihnen droht, dass sie ihre Verbraucherprodukte nicht mehr vermarkten können.

Wie stehen Sie den Meldungen an die Giftinformationszentren grundsätzlich gegenüber?

Engelmann: Es ist sehr wichtig, dass Ärzte und Verbraucher im Fall einer Vergiftung schnelle und kompetente Hilfe bekommen. Das gewährleistet das momentane System in Deutschland, ohne die Unternehmen mit unnötiger Bürokratie zu überfrachten. Das neue EU-weite System muss für Unternehmen und Giftinformationszentren praktikabel sein. Was niemandem hilft sind „Datenfriedhöfe“, die überdies auch noch zum Rezepturdiebstahl einladen.

Kontakt: engelmann[at]vci.de

 

PRAXIS: UNTERSCHIEDLICHE REGELUNG

Bisher war die Meldung in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich geregelt. Mit der Verordnung (EU) 2017/5429 wurde der CLP-Verordnung ein neuer Anhang zu harmonisierten Informationen für die gesundheitliche Notversorgung hinzugefügt. Der neue Anhang VIII regelt die harmonisierte Meldung von Informationen über die Zusammensetzung von chemischen Gemischen, die gemäß CLP-Verordnung als gefährlich für die menschliche Gesundheit eingestuft sind.

In Deutschland gibt es aktuell acht öffentliche Giftinformationszentren. Diese bieten schnelle Hilfe in Vergiftungsfällen und Vergiftungsverdachtsfällen für medizinisches Fachpersonal und Privatpersonen.

VdL-Hautgeschäftsführer Dr. Martin Engelmann betont, dass der Anteil an Anrufen, die Farben und Lacke betreffen, äußerst gering sei. So habe es z.B. beim Giftinformationszentrum Nord der Bundesländer Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein im Jahr 2017 insgesamt rund 41.000 Anrufe gegeben und nur in 176 Fällen sei es um Dispersionsfarben und -lacke gegangen. In keinem Fall ging es dabei um eine schwere Vergiftung, vielmehr war die Mehrzahl „symptomlos“, wie es in der Statistik heißt.


Eine englische Version des Beitrags können Sie hier herunterladen: