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Wie künstliche Intelligenz die Branche verändert

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Es ist kein Geheimnis: Künstliche Intelligenz (KI) wird auch unsere Branche verändern. Um zu verstehen, welche Entwicklungen im Bereich KI und Maschinelles Lernen bereits heute in der Lack- und Druckfarbenindustrie angestoßen werden, welche Chancen dies bietet, wohin die Entwicklung gehen könnte und wo die Grenzen liegen, werden wir uns in unserer neuen Serie ausführlich mit diesem Thema beschäftigen.

Wir werden nicht erklären, wie KI-Systeme im Einzelnen funktionieren. Aber wir werden darstellen, mit welchen Veränderungen durch den Einsatz von KI zu rechnen ist, und warum es für alle Beteiligten – Lieferanten, Hersteller und Verarbeiter sowie Anlagenhersteller – essenziell ist, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. In diesem Auftaktartikel lesen Sie, in welchen Prozessen in der Lackindustrie KI zum Einsatz kommen kann und wie mit ihrer Hilfe die Herausforderungen bewältigt werden können, die unsere gesamte Branche betreffen. In den kommenden Ausgaben werden wir näher auf aktuelle Forschungsprojekte eingehen, in denen Hochschulen und Forschungsinstitute gemeinsam mit Partnern aus der Chemie- und Lackindustrie sowie angrenzenden Branchen schon heute an den Lösungen für morgen arbeiten. Schließlich werden wir beleuchten, wie KI konkret in Entwicklungs-, Produktions- und Applikationsprozessen eingesetzt wird und welche Folgen der Einsatz von KI für die Arbeitswelt hat.

 


Was ist Künstliche Intelligenz?
Der Begriff Künstliche Intelligenz (KI) wurde bereits in den 1950er Jahren geprägt. Man ging damals davon aus, dass Maschinen, also Computer, bereits in naher Zukunft so intelligent oder sogar intelligenter und leistungsstärker sein würden als menschliche Wesen. Diese sehr euphorischen Voraussagen erfüllten sich jedoch nicht, sodass das Thema ab den 1980er Jahren in einen Winterschlaf fiel, aus dem es erst jetzt aufgrund von gestiegenen Rechnerleistungen und Speicherkapazitäten, wieder erwacht. Da die Definition von menschlicher Intelligenz schon eine philosophische Herausforderung ist, bevorzugen viele Menschen, die sich mit KI beschäftigen, den Begriff „Maschinelles Lernen auf der Basis neuronaler Netze“. Dies beschreibt die Fähigkeiten eines KI-Systems, mit Hilfe von Algorithmen bestimmte anspruchsvolle Aufgaben selbsttätig zu lösen, die auf Grund ihrer Komplexität bislang menschliche Fähigkeiten der Wahrnehmung (Sehen, Hören, Lernen etc.) voraussetzten. Dabei erkennen sie Zusammenhänge in Datensätzen und sind in der Lage, darauf basierend Vorhersagen zu treffen. So können sie größere und komplexere Datenmengen schneller und mit größerer Entscheidungssicherheit verarbeiten als ein Mensch dies je könnte. KI ist ein Aspekt von Digitalisierung und Automatisierung, bei der menschliche Arbeit von Maschinen übernommen wird. 2018 hat die Bundesregierung eine KI-Strategie formuliert, nach der die Erforschung, Entwicklung und Anwendung von KI in Deutschland auf ein weltweit führendes Niveau gebracht werden soll.


 

Spätestens seit der Vorstellung des KI-Moduls Chat GPT ist ein Hype um das Thema Künstliche Intelligenz (KI) entstanden. Es heißt, dass KI jede Branche und alle Aspekte unseres Lebens erfassen und tiefgreifend verändern wird. Einige sprechen von einer revolutionären Technologie, mit der Industrialisierung oder der Einführung der Elektrizität vergleichbar. Andere befürchten, dass der Einsatz von KI demnächst zum Untergang der Menschheit führt.

Wie stets bei innovativen Technologien stehen mahnende Skeptiker begeisterten Nutzer gegenüber. Und dazwischen diejenigen, die überzeugt sind, dass sich grundsätzlich nichts ändern wird. Das war bei der Einführung des PC, des Internets und des Smartphones ähnlich. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass KI-Systeme in der Lack- und Druckfarbenindustrie an verschiedenen Stellen bereits Einzug gehalten haben und neue Ansätze mit Hochdruck weiterentwickelt werden. Die kommenden Herausforderungen, wie regulatorische Vorgaben aus Brüssel, Anforderungen an die Nachhaltigkeit von Produkten und Prozessen, Störungen in den Lieferketten und damit einhergehend ein zunehmender Wettbewerbsdruck werden ohne entsprechende KI-Systeme kaum mehr bewältigt werden können. Der Einsatz von KI erfordert jedoch auf allen Unternehmensebenen neue Denk- und Arbeitsweisen. Dabei sollte allen Beteiligten klar sein: Kein Unternehmen, das in einem derart bewegten Marktumfeld wie der Lack- und Druckfarbenindustrie eine Zukunft haben will, kann diese Entwicklung ignorieren.

 

Auf dem Weg in die digitale Lackchemie

Die Einsatzmöglichkeiten von KI in der Lackindustrie sind äußerst. Die Spanne reicht von der Entwicklung neuer Rezepturen und Produkte, über die Optimierung von Lieferketten, Logistik und Produktionsprozessen bis hin zu Planung von Lackieranlagen und Applikationsprozessen. Auch administrative Prozesse, beispielsweise im Recruiting oder der Entgeltabrechnung etc. werden sich durch den Einsatz von KI verändern. Zwar steht die Branche im Verhältnis zu anderen Sparten der Chemieindustrie noch am Anfang der Nutzung von KI, aber erste Projekte zeigen, wohin die Reise gehen wird.

Im HIT Institut für Oberflächentechnik der Hochschule Niederrhein in Krefeld geht es um nichts weniger als die digitale Zukunft der Lackchemie: „Mit unserer intelligenten Hochdurchsatz-Anlage an unserem Institut können wir neue Rezepturen für Farben, Lacke und Klebstoffe mit Hilfe von KI schneller und vor allem nachhaltiger mit optimal an die jeweilige Anwendung angepassten Eigenschaften entwickeln und in marktreife Produkte überführen“, erklärt Institutsleiter Professor Dr. Jost Göttert.

Statt immer wieder Probe für Probe anzurühren und aufzutragen, machen dies die Roboter nach Vorgaben eines Algorithmus. Die kleinen und mittleren Unternehmen der Region erhalten so die Chance, über die intelligent gesteuerte Nutzung des Roboters die Möglichkeiten von Digitalisierung und Industrie 4.0 für ihre Produkte zu nutzen. „Dank des Wissens- und Technologietransfers von der Hochschule in die Region können Unternehmen schnell neue Rezepturen entwickeln und so dynamisch auf regulative Änderungen oder neue Marktanforderungen reagieren“, so Göttert.

Doch der Weg hin zu einer digitalen Lackchemie ist noch weit. „Bei der Entwicklung und Nutzung von KI stehen wir in der Lack- und Druckfarbenindustrie noch am Anfang“, weiß Professor Dr. Christian Schmitz, der als Experte für Lack und Oberflächenchemie mit dem HIT-Institut zusammenarbeitet. „Unser Ziel ist es, dass die KI am Ende in der Lage ist, chemische Formeln zu interpretieren, dass sie Vorschläge für Rezepturen macht, auf die wir selbst vielleicht nicht gekommen wären. Da sind uns andere Branchen wie die Pharmaindustrie was den Einsatz von KI angeht, einige Jahre, in Bezug auf die Automation sogar Jahrzehnte voraus.“

 

Künstliche Intelligenz ganz konkret

Wissenschaftler in Forschung und Industrie beschäftigen sich jedoch seit längerer Zeit intensiv mit KI und ihren konkreten Möglichkeiten. So hat ein Forschungsteam vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA in Stuttgart das ambitionierte Ziel, mit Hilfe von KI den Ausschuss, Anlagenausfälle und Nacharbeit bei der automatisierten Lackierung von Stoßfängern, Rückspiegeln, Türgriffen und anderen Anbauteilen aus Kunststoff im Automobil- und Nutzfahrzeugsektor zu reduzieren. Sie wollen die Anzahl der Fehler, beispielsweise weil eine geforderte Schichtdicke nicht erreicht wurde, um 30 % und die Stillstandzeiten um 20 % senken. Außerdem sollen der jährliche Lackverbrauch und die Anlaufzeit neuer Farben um jeweils 10 % verringert werden. Dabei werden sichtbare Lackierfehler oder die Messdaten der Lackschichtdicke mit den Prozessdaten aus der Anlagensteuerung zusammengeführt. Algorithmen erkennen frühzeitig drohende Qualitätsabweichungen und geben Hinweise auf deren Ursache.

In der Lackiererei der BMW Group im Werk München hilft KI dabei, die hochsensiblen Lackieranlagen in der Serienfertigung noch präziser zu steuern. Staubpartikel in Lackierstraßen sind ein Problem, wenn sie in den noch feuchten Lack eindringen und damit die Oberfläche optisch beeinträchtigen. Die Daten der automatischen Oberflächeninspektion dienen als Grundlage für den Aufbau einer umfassenden Datenbank zur Staubpartikelanalyse. Dabei gleichen KI-Algorithmen die Live-Daten der Staubpartikelsensoren in den Lackierkabinen und Trocknern mit dieser Datenbank ab.

 

Digitale Kompetenz erhöhen und Wissen vernetzen

Trotz zahlreicher Projekte gibt es in der Branche bei der Nutzung von KI noch Luft nach oben. In vielen Bereichen der Lackindustrie werden ihre Möglichkeiten noch nicht hinreichend ausgeschöpft. Die Menge der verfügbaren Daten, die für das Trainieren einer KI unerlässlich sind, müssen zum Teil mit viel Aufwand erst generiert werden. Es geht darum, den Erfahrungsschatz aus unzähligen Testreihen und das Wissen aus den Forschungsabteilungen zu heben und zu nutzen: Denn nicht zuletzt die Analyse von Daten liefert wichtige Anhaltspunkte und hilft, künftige Entwicklungen zu beschleunigen. Daten von Zwischenschritten, Teilergebnissen und Fehlversuchen sollten daher dokumentiert werden.

„Künstliche Intelligenz ist vor allem ein technisches Werkzeug, das dazu dient, valide Daten zu erzeugen und zu bewerten. Ziel ist es dabei immer, die Prozesse in der gesamten Wertschöpfungskette zu optimieren“, sagt Hendrik Hustert. Er ist Geschäftsführer der ORONTEC GmbH und Co. KG, die Unternehmen der Lack- und Beschichtungsindustrie unter anderem in den Bereichen Digitalisierung und Prozessoptimierung berät.

In erster Linie kommt es für die Lackhersteller also künftig darauf an, analoge Werte in digitale Formate umzuwandeln. So können Daten aus verschiedenen Quellen miteinander verknüpft werden, um sämtliche Entwicklungs-, Produktions- und Arbeitsabläufe zu verbessern und Ressourcen bestmöglich einzusetzen. Das betrifft alle Segmente: von der der Beschaffung der Rohstoffe über die Anforderungen an eine Lackrezeptur, die maschinelle Applizierung bis hin zu den ökologischen Auswirkungen. Für Unternehmen heißt es deshalb, ihre Digitalkompetenz zu steigern. Denn der Weg in die Digitalisierung erfordert auf den Führungsetagen oft ein konsequentes Umdenken. „Wissen in einzelnen Köpfen ist wertlos. Was Unternehmen heute brauchen, ist ein datenbasiertes Mindset“, erläutert Hustert. „Davon hängt ab, ob und wie sie langfristig ihre Produktivität steigern und Ressourcen besser nutzen.“

Lackkompetenz muss sich also künftig stärker mit digitaler Kompetenz verbinden. Das stellt neue Anforderungen an die Fachkräfte, die das entsprechende Knowhow mitbringen oder erwerben müssen. Ein freier Zugang zu relevanten Daten ist dabei unverzichtbar, übergreifendes Abteilungsdenken mehr denn je gefragt. „Es geht im Übrigen nicht darum, Menschen durch eine KI zu ersetzen“, so Professor Dr. Christoph Quix, der als Informatiker zusammen mit dem HIT-Institut Projekte bearbeitet. „KI wird die Arbeit erleichtern und sie verbessern. Sie kann Mitarbeitende von stupiden, gleichförmigen Aufgaben entlasten, beispielsweise bei Versuchsreihen, damit sie sich auf substanzielle Arbeiten konzentrieren können. Zudem arbeitet eine KI nicht selbstständig. Es ist der Mensch, der die Fragen stellt und damit die KI triggert.“

b Bei der Beschaffung und Logistik ergeben sich durch KI-Methoden ebenfalls beträchtliche Vorteile für Lackproduzenten: So ist es mittlerweile möglich, Rohstoff-Daten mit dem Lieferanten-Portfolio zu vernetzen, um etwa direkten Zugriff auf alternative Rohstoffe und Zulieferer zu erhalten. Engpässe und Produktionsverzögerungen ließen sich damit von vornherein vermeiden.

Nicht zu vergessen ist der Nachhaltigkeitsaspekt, der immer größere Bedeutung hat: Nicht nur der C02-Abdruck des Produkts, sondern der gesamten Lieferkette lässt sich ermitteln, indem Lieferanten- und Hersteller-Daten der Rohstoffe zusammengeführt werden. „Das heißt, dass jedes Unternehmen zukünftig auch mehr Informationen von seinen Lieferanten braucht“, erklärt Quix. „Idealerweise entsteht parallel zum Materialfluss jedes Produkts auch ein Datenfluss, in dem alle Informationen über die einzelnen Verarbeitungsschritte enthalten sind.“