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„Wie es zu erwarten war“

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Prof. Dr. Robin van der Hout von der Kanzlei Kapellmann Rechtsanwälte vertritt die klagenden Unternehmen der Lack- und Druckfarbenindustrie in Sachen Titandioxid. Der Rechtsanwalt berät Unternehmen sowie Bund, Länder und Kommunen in spezialisierten Fragen des EU-Rechts, insbesondere zum EU-Beihilferecht und zum EU Binnenmarktrecht. Schwerpunkte bilden die Prozessvertretung vor den EU-Gerichten, die Vertretung in Verfahren der Europäischen Kommission und die Begleitung von EU-Gesetzgebungsverfahren.

Rechtsanwalt Robin van der Hout analysiert die juristische Lage im „Fall Titandioxid“, nachdem Frankreich und die EU-Kommission Rechtsmittel eingelegt haben.

 

Vor wenigen Monaten hat das Europäische Gericht in Luxemburg die Einstufung von Titandioxid für rechtswidrig erklärt. Sie sprachen damals von einem überzeugenden Urteil, das „auf zwei tragenden Säulen“ steht. Können Sie uns diese Säulen noch einmal kurz erklären?

Im erstinstanzlichen Verfahren hat sich das Europäische Gericht sehr intensiv mit dem zum Teil hochtechnischen Vortrag der Parteien beschäftigt. Dabei ging es zum einen um die Frage, ob die zuständigen europäischen Stellen auf der Grundlage der verfügbaren wissenschaftlichen Informationen eine vertretbare Ermessensentscheidung getroffen haben, oder ob sie dabei einen offensichtlichen Ermessensfehler begangen haben. Das Gericht erkannte einen solchen offensichtlichen Ermessensfehler, u.a. weil von den vorhandenen Studien nicht alle vollständig ausgewertet wurden und darüber hinaus Unstimmigkeiten und fehlende Vergleichbarkeiten ignoriert wurden. Auch waren die tragenden Studien schon recht alt, und es gab bereits aktuellere Daten, die man umfassender hätte berücksichtigen müssen. Ferner hatte sich das Gericht mit der Auslegung des juristischen Begriffs der Intrinsität beschäftigt und festgestellt, dass Eigenschaften, die nicht aus einem Stoff selbst heraus bestehen, sondern z.B. von einem bestimmten Aggregatzustand abhängen, nicht intrinsisch sind. Die Europäische Kommission hatte sich damit versucht zu retten, von einer „Intrinsität nicht im klassischen Sinne“ zu sprechen. Dem ist das Gericht nicht gefolgt.

Nun haben die EU-Kommission und Frankreich Rechtsmittel eingelegt. Was bedeutet das?

Im Rechtsprechungssystem der EU können erstinstanzliche Urteile ähnlich wie in den Mitgliedstaaten in zweiter Instanz überprüft werden. Bei so einem Rechtsmittel handelt es sich um eine Instanz, welche auf Rechtsfragen beschränkt ist, ähnlich wie in Deutschland eine Revision. Dies bedeutet, dass die Fakten durch die zweite Instanz nicht noch einmal festgestellt werden. Vielmehr wird allein überprüft, ob sich in der Urteilsbegründung des erstinstanzlichen Gerichts ein so gravierender Rechtsfehler finden lässt, dass man zu dem Schluss kommen muss, das Urteil hätte anders ausfallen müssen. Eine solche rechtliche Überprüfungsmöglichkeit ist in einem Rechtstaat eine Selbstverständlichkeit und die Kommission und Frankreich haben hier von einem ihnen zustehenden Recht Gebrauch gemacht.

Wie begründen die beiden diese Revision?

Wie es zu erwarten war, vertreten die Rechtsmittelführer die Position, dass der vom Gericht gefundene Fehler nicht „offensichtlich“ war, sich die Einschätzung also noch im Rahmen des zulässigen Ermessens bewegte. Dann hätte aber das Gericht nicht das Recht gehabt, die Entscheidung der Kommission inhaltlich zu prüfen und durch eine eigene zu ersetzen. Darüber hinaus argumentieren die Rechtsmittelführer, dass die juristische Auslegung des Begriffs der Intrinsität nach der CLP-Verordnung falsch sei und vielmehr diese hätte weiter ausgelegt werden müssen. Da das EuG sein Urteil auf diese zwei Pfeiler gestützt hat, war es im Rechtsmittel zu erwarten, dass Frankreich und die Kommission versuchen, beide Begründungen zu widerlegen. Denn nur, wenn der Gerichtshof beide Begründungen für rechtsfehlerhaft hält, würde das erstinstanzliche Urteil aufgehoben werden können. Wenn hingegen einer der Gründe Bestand hat, reicht dies, um das Urteil zu bestätigen.

Kenner der Materie haben gleich nach dem Urteil erwartet, dass Rechtsmittel eingelegt wird. Warum, wenn doch das Urteil überzeugend war?

Hierüber kann man freilich nur spekulieren. Abgesehen vom Einzelfall hat die Europäische Kommission natürlich auch eine politische Agenda und noch andere Stoffe als nur Titandioxid auf der Liste. Das Urteil definiert die Prüfungsmaßstäbe für die wissenschaftliche Beurteilung durch die EU-Institutionen und hat daher über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung. Insbesondere Frankreich hat deutlich gemacht, dass es den restriktiveren Kurs bei der Klassifizierung von Stoffen politisch für richtig hält und diesen auch auf europäischer Ebene durchsetzen möchte.

Wie geht es nun weiter? Wagen Sie eine Prognose?

Nachdem nun die Revision eingelegt wurde, können die früheren Kläger und Streithelfer hierauf reagieren. Auf diese Rechtsmittelbeantwortung können dann wiederum Frankreich und die Kommission im Wege einer Erwiderung antworten, auf welche dann die Unternehmen dann noch einmal mit einer Gegenerwiderung reagieren können. Nach diesen zwei Schriftsatzrunden gibt es dann in aller Regel eine mündliche Verhandlung vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Im Anschluss wird der zuständige Generalanwalt seine Schlussanträge präsentieren, die einen Entscheidungsvorschlag an den Gerichtshof enthalten. Die Richter sind hieran nicht gebunden, berücksichtigen die Ausführungen aber oftmals bei ihrer Urteilsbegründung. Die übliche Verfahrens dauer einer Revision beträgt 18 bis 24 Monate, sodass wir ein Urteil wohl frühestens in der zweiten Jahreshälfte 2024 sehen werden. Bis dahin gelten die alten Regelungen fort und müssen umgesetzt werden.

Vielen Dank für das Interview!

 

Die Fragen stellte Alexander Schneider