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Serie Risikowahrnehmung: Chemie ohne gefährliche Stoffe?

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Die neue Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit setzt einen besonderen Schwerpunkt auf „gefährliche Stoffe“. Was aber sind gefährliche Stoffe?
Ein Exkurs …

Oft wird anklagend festgestellt, dass chemische Stoffe mit gesundheitsgefährdenden Eigenschaften immer noch 74 % der gesamten chemischen Produktion in Europa ausmachen. Das EU-Parlament geht noch einen Schritt weiter und forderte gleich ein „Phase-out“ aller gefährlichen Stoffe. Als Gegenentwurf zum Einsatz „gefährlicher Stoffe“ sieht die EU-Chemikalienstrategie den Übergang zu inhärent sicheren und nachhaltigen Chemikalien als dringende gesellschaftliche Notwendigkeit an.

Hier liegt offenbar ein mangelndes Verständnis für die Grundlagen der Chemie und die Bewertung des Risikos durch chemische Stoffe vor: Unstrittig ist, dass Arbeitnehmer, Verbraucher und Umwelt vor gefährlichen Chemikalien geschützt werden müssen. Aber das heißt nicht, dass gefährliche Stoffe "schlecht" sind – im Gegenteil: Oft sind sie wichtig und nützlich.

Was bedeutet aber "gefährlich"?
Typischerweise sind damit Stoffe gemeint, die nach der Chemikaliengesetzgebung so eingestuft sind. Dies würde auch alle physikalischen Gefahrenklassen, wie z.B. „entflammbar“ umfassen. Wenn man nur die als gesundheitsgefährdend eingestufte Stoffe betrachtet, so sind darunter natürlich viele Stoffe mit Gefahreneinstufungen, die in den vielen Produkten nicht eingesetzt werden sollten. Dies ist aber bereits heute gelebte Praxis bei Farben und Lacken.

Risiko = Exposition x Gefahr

Es finden sich zusätzlich sehr viele Stoffe, die auch künftig in hohen Mengen für nachhaltige Produkte benötigt werden, und sicher verwendet werden können. Man kann diese Stoffe grob in verschiedene Kategorien einteilen:

 

Als gefährlich eingestufte Stoffe, die in typischen Anwendungen keinerlei Risiko für den Verbraucher darstellen:
Typische Beispiele wären Zitronensäure oder Natriumcarbonat. Prominentes Beispiel ist Titandioxid, was trotz Einstufung sehr sicher in Farben und Lacken verwendet werden kann.

Als gefährlich eingestufte Stoffe, die vom Verbraucher benötigt werden und sicher verwendet werden können:
Dabei handelt es sich um Stoffe, die zweifellos ein Gefährdungspotential aufweisen, die aber sicher verwendet werden können und benötigt werden. Bestes Beispiel sind Desinfektionsmittel, die derzeit überall zu finden sind, und die in der Pandemie auch von vielen Herstellern von Farben und Lacken produziert werden. Die WHO-Standardformel enthält z. B. Ethanol und Wasserstoffperoxid – alles gefährliche Stoffe, die wir in der gegenwärtigen Krise dringend benötigen.

Als gefährlich eingestufte Stoffe in der Produktion, mit denen der Verbraucher nie in Kontakt kommt:
In der industriellen Produktion werden viele Chemikalien benötigt, die sehr gefährlich sind, denen der Verbraucher aber nie als solche begegnet. Das betrifft fast alle Basischemikalien. So sind Polymerdispersionen im Allgemeinen nicht „gefährlich“, die Monomere, aus denen die Polymere synthetisiert werden, jedoch häufig schon – dabei handelt es sich ja inhärent um reaktive Stoffe.

Als gefährlich eingestufte Stoffe in der Produktion, die als Grundreagenzien und Bausteine für die chemische Synthese und Forschung verwendet werden:
Um neue Stoffe oder Hochleistungsmaterialien zu entwerfen, müssen chemische Reaktionen stattfinden: Die dafür benötigten Reagenzien haben notwendigerweise eine gewisse Reaktivität, und reaktive Chemikalien gehören typischerweise einer oder mehreren Gefahrenklassen an. Chemie und chemische Forschung ist ohne Gefahrstoffe kaum denkbar.

 

Diese Auflistung zeigt, dass es nicht sinnvoll ist, alle eingestuften Stoffe unter Generalverdacht zu stellen. Es gilt nach wie vor, dass man auch die Exposition betrachten muss und nicht nur die intrinsische Gefahr.

Sind „sichere und nachhaltige Stoffe“ die Lösung für die Zukunft?
Sicher nicht, denn Sicherheit und Nachhaltigkeit sind keine inhärenten Stoffeigenschaften. Es kommt immer auf die Verwendung an. Auch viele als gefährlich eingestufte Stoffe werden benötigt, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern – seien es Rohstoffe für Batterien, Solarzellen oder effiziente Beschichtungen, die die Lebensdauer von Produkten erhöhen. Vermutlich würde die Kommission Bisphenol A nicht per se als sicheren und nachhaltigen Stoff betrachten, wie steht es aber mit einer Epoxid­harzbeschichtung für Windräder?

Nachhaltigkeit ist komplex und muss gesamtheitlich betrachtet werden. Eine Einengung des Begriffes auf die Eigenschaften von Stoffen, wie er in der Chemikalienstrategie propagiert wird, ist kontraproduktiv, unwissenschaftlich und steht den Zielen des Green Deal entgegen.

Dr. Christof Walter
ist beim VdL Referent für die
Bereiche Biozide, Druckfarben
und Produkt­informationen.
walter@vci.de