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Interview: Die Flut kann nicht gestoppt werden.

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Paolo Bonamigo ist Head of Product Safety and Regulatory Affairs beim deutschen Druckfarbenhersteller hubergroup. Als Vorsitzender der CEPE-Task-Force zur Neuen Chemikalienstrategie hat der Italiener in den vergangenen drei Jahren die Belange der europäischen Farbenindustrie mitentwickelt und in Brüssel eingebracht.

Paolo Bonamigo, Sie sind Vorsitzender der CEPE-Task-Force zur Neuen Chemikalienstrategie (CSS). Bitte beschreiben Sie uns kurz diese Arbeitsgruppe.

PB: Die Gruppe besteht aus etwa 25 CEPE-Unternehmen und na tio nalen Verbänden. Die Gruppe startete während der Corona- Pandemie und operierte bisher nur online. Normalerweise sind etwa 25 bis 30 Personen bei den Meetings anwesend. Dies liegt auch an der hohen Häufigkeit der Treffen, die ursprünglich einmal im Monat stattfanden und dann seit einem Jahr auf alle zwei Wochen für drei Stunden ausgeweitet wurden.

 

Die CSS ist eines der ehrgeizigsten Projekte der EU-Kommis sion im Rahmen des Green Deals. Was will die EU hier auf den Punkt gebracht erreichen, und was sind die wichtigsten Problemfelder?

PB: Die Kommission hat sich mit dieser Strategie äußerst hohe Ambitionen gesetzt, etwa den Ausstieg aus den „schädlichsten Chemikalien“, außer für wesentliche Verwendungszwecke, und den Übergang zu Chemikalien, die vom Design her „sicher und nachhaltig“ sind. Die Anzahl der zur Erreichung dieser Ziele vorgeschlagenen Maßnahmen war mit 80 Punkten sehr hoch.

Im Laufe der Zeit wurde klar, dass dies einen erheblichen Wandel in der Denkweise der Kommission und eine grund- legende Neufassung des europäischen Chemikalienrechtsrahmens darstellt. Als Hauptrisiken sehen wir den Übergang von einem risikobasierten Ansatz zu einem gefahrenbasierten Ansatz, bei dem die zunehmende Exposition nur geringfügig berücksichtigt wird. Es sind halbautomatische Verbote aufgrund von intrinsischer Gefahr der Stoffe vorgesehen, unabhängig von der Möglichkeit einer sicheren Verwendung – dies ist der sogenannte GRA, also die „generische Risikobewertung“.

Auch die zunehmende Verwendung von Verallgemeinerungen und Gruppierungen von Stoffen können zu einer übermäßigen Vereinfachung der Gefahreneinstufungen führen. Problematisch ist für uns auch die Einführung neuer Konzepte mit einem hohen Maß an Unsicherheit und Unklarheit. Was ist zum Beispiel ein „wesentlicher Nutzen“? Wer entscheidet, was „wesentlich“ ist? Der sogenannte MAF – Mixture Assessment Factor – ein mathematischer Faktor, der eingeführt wurde, um unbeabsichtigte Vermischungen zu berücksichtigen, scheint eine der wirkungsvollsten Maßnahmen zu sein.

Möglicherweise führt der MAF dazu, dass viele Lösungsmittel in unserer Branche nicht mehr verwendet werden können. Generell besteht die Gefahr, dass die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Chemieindustrie aufgrund der erheblichen Unsicherheit im Zusammenhang mit der regulatorischen Entwicklung gefährlich beeinträchtigt wird. Und das Fehlen einer seriösen, umfassenden und vertrauenswürdigen Folgenabschätzung für die Einzel- und Gemeinschaftsmaßnahme der CSS bergen die Gefahr, die tatsächlichen wirtschaftlichen Auswirkungen dieses Maßnahmenpakets zu unterschätzen.

 

Im Juni 2024 sind Europawahlen, und alles, was noch durch den legislativen Prozess soll, muss von der Kommission jetzt vorgelegt werden. Trauen Sie sich bereits eine Bewertung zu?

PB: Die Europawahlen 2024 waren stets ein inoffizieller und unausgesprochener Stichtag im Hintergrund aller CSS-Diskussionen. Die Kommission konnte nur einige Ziele erreichen. Die erste Bilanz lautet also, dass das CSS-Paket zu ehrgeizig war, um in kurzer Zeit realisierbar zu sein. Die Revision der CLP-Verordnung wird voraussichtlich bis Ende der Legislatur erledigt werden, während die Revision der REACH-Verordnung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr erledigt wird. Nichtdestotrotz glaube ich, dass die Kommission zwei wichtige Ziele erreicht hat: Die Beschleunigung der regulatorischen Entwicklung der Chemikaliengesetzgebung in der EU und leider auch die Verankerung des Paradigmenwechsels hin zu einem gefahrenbasierten statt einem risikobasierten Ansatz. Zusammengefasst: Keine schlechte Bilanz für die Kommission, aber eine schlechte Bilanz für die Chemieindustrie.

 

Seit der Vorlage der Chemikalienstrategie wurde die Industrie mit unzähligen Hintergrundstudien, Konsultationen, Workshops usw. konfrontiert. Wie konnte CEPE und die CSS-Taskforce diese immensen Anforderungen bewältigen?

PB: Es erstaunt mich immer noch, wie viel unsere Gruppe in diesen verrückten Monaten zur CEPE-Positionierung beitragen konnte. Es war wirklich eine harte und hektische Arbeit, und wir müssen den CEPE-Mitarbeitern, die das alles unterstützt haben, wirklich danken, sowie dieser kleinen Gruppe von Unternehmensexperten, die viel Fachwissen, Analysen und Arbeit beigesteuert haben. Es hat geholfen, dass wir eine relativ schlanke Gruppe hatten, in der wir trotz der Komplexität der Themen einen Konsens finden konnten. Es förderte auch das gemeinsame Bewusstsein für die Notwendigkeit, der Kommission Alternativen zu ausgewählten Maßnahmen vorzuschlagen, anstatt die Vorschläge grundsätzlich abzulehnen. Dies alles führte zu dem Meilenstein, dass diese Gruppe in CEPE das Konzept der „frühen Analyse von Alternativen“ entwickelte, das jetzt auch von DUCC und Cefic unterstützt wird.

 

Wie konnte sich die Farbenindustrie bei kurzen Rückmelde fristen und komplexen Themen schnell positionieren?

PB: Wie gesagt, die CSS-Untergruppe war relativ schlank und wir konnten trotz der Komplexität einen Konsens finden. Ich glaube, dass dies durch ein echtes Gefühl der Dringlichkeit gefördert wurde: Das Tempo der Diskussionen zeigte, wie ernst es der Kommission mit der Herbeiführung radikaler Veränderungen war. Um es deutlicher auszudrücken: Wir haben uns echte Sorgen gemacht. Darüber hinaus erkannte CEPE schon früh, dass diese Gruppe über umfangreiche Fachkenntnisse und Repräsentanz verfügte, sodass der Verband darauf vertraute, dass die Gruppe in bestimmten Fällen recht schnell handeln würde. Daher wählte CEPE aufgrund des Zeitmangels einen schlankeren Genehmigungsprozess für die von der Gruppe generierten Positionen.

Dafür bin ich dankbar, denn dies war eine Anerkennung für die harte Arbeit der Gruppe in der intensivsten Phase. Außerdem arbeiteten die CEPE-Mitarbeiter im Hintergrund mit Hochdruck daran, mit anderen Verbänden, vor allem Cefic und DUCC, in Kontakt zu treten, um die Zustimmung zu den von uns erarbeiteten Vorschlägen und Positionen sicherzustellen.

 

Haben die modernen Kommunikationsmethoden seit der Pandemie geholfen, oder kann die digitale Welt auch ein Fluch sein?

PB: Ohne die Webkonferenz-Tools hätten wir nicht die Hälfte schaffen können. Die neuesten Kommunikationsmethoden waren für den Betrieb und die Wirksamkeit der Gruppe von grundlegender Bedeutung. Der einzige Nachteil ist, dass sich diese Gruppe so oft trifft und virtuell so gut funktioniert, dass wir uns nie persönlich getroffen haben. Es gibt immer noch Leute, mit denen ich seit fast drei Jahren eng zusammenarbeite, die ich aber noch nie persönlich getroffen habe.

 

Die beiden großen Blöcke der CSS sind die Revision von REACH und CLP. Wo stehen wir hier gerade? Was erwarten wir noch bis zum Ende der Legislaturperiode?

PB: Die Überarbeitung der CLP-Verordnung ist im Gesetzgebungsprozess verankert und wird zum Abschluss gebracht, auch wenn dies voraussichtlich schwerwiegende Folgen für die Formulierungsindustrie im Allgemeinen haben wird, insbesondere im Hinblick auf die Kennzeichnungspflichten. Andererseits wird die REACH-Überarbeitung mit ziemlicher Sicherheit nicht innerhalb dieses Kommissionsmandats abgeschlossen. Trotzdem werden die neuen Konzepte und Regeln zumindest in Entwurfs form in das Gesetz aufgenommen und voraussichtlich von der nächsten Kommission weitergearbeitet. Das Ende der Legislaturperiode wird interessant sein. Einige „Schwergewichte“ in der Kommission verlassen bereits das Amt (ich denke an Frans Timmermanns), und das Tempo der Aktivitäten rund um den Green Deal und die CSS könnte sich verlangsamen. Wir müssen dies sorgfältig beobachten und uns auf die nächste Kommission und das nächste Parlament vorbereiten. Das große Risiko für unsere Branche bleibt die Tatsache, dass die Flut nicht gestoppt, sondern im besten Fall nur verlangsamt werden kann. Ich meine, die neuen Konzepte und Diskussionen, die in den letzten drei Jahren entwickelt wurden, werden den Regulierungsprozess in den nächsten Jahren vorantreiben. Wie schnell und mit welchen Auswirkungen, ist unklar. Aber uns muss klar sein, dass der regulatorische Spielraum der chemischen Industrie in Europa deutlich schrumpfen wird.

 

In der EU ist das Zusammenspiel der Kommission mit Parlament und Mitgliedsstaaten entscheidend. Für Verbände kommt es daher auf das Zusammenspiel der nationalen Kontakte und der Advocacy mit der EU-Kommission an. Wie gut funktioniert dies zwischen CEPE und nationalen Verbänden, und wo können wir noch besser werden?

PB: Allgemeinen denke ich, dass CEPE und die nationalen Verbände sehr gute Arbeit bei der Kontaktaufnahme mit Kommissionen und Europaabgeordneten geleistet haben. Es gibt jedoch zwei Bereiche mit Verbesserungspotenzial: Die Verbände sollten versuchen, stärker mit den nationalen Vertretern zusammen- zuarbeiten, die den Entscheidungsprozess des EU-Rats leiten. Dies könnte ein besseres Gegengewicht zur Tätigkeit der Kommission darstellen. Und schließlich sollten mehr nationale Verbände, die sich der CEPE anschließen und derzeit nicht so aktiv sind, ihre Lobbyarbeit deutlich verstärken.

 

Haben sie auch mit anderen CEPE-Subgroups zusammengearbeitet? Entsteht hier ein Branchenbewusstsein?

PB: Mein weiteres relevantestes Engagement ist die Leitung des technischen Komitees der EuPIA, die ich im Oktober übergeben werde, da mein vierjähriges Mandat abgelaufen ist. Mein Ein- druck ist, dass die Unternehmensvertreter in den verschiedenen CEPE-Gruppen, an denen ich teilnehme, ein klares und starkes Bewusstsein für die Bedeutung unseres Sektors und auch für die horizontalen Probleme haben, die zwischen Druckfarben- und Beschichtungsbranche gemeinsam sind.

 

Hand aufs Herz: Der Green Deal und die CSS als Ganzes begrüßen wohl die wenigsten Branchenmanager euphorisch. Sehen Sie auch Chancen, die daraus erwachsen könnten?

PB: Ich sehe ein ernsthaftes Risiko für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Chemieindustrie gegenüber dem Rest der Welt. Ich denke, das reicht aus, um jeden Top-Manager zu besorgen. Ich möchte jedoch versuchen, mit einer positiven Note abzuschließen: Ich sehe Chancen für die chemische Industrie, sofern die EU-Industriepolitik weniger dirigistisch wird und eine technologisch neutrale Diskussion über die Vorzüge der Themen annimmt und den ideologischen Ansatz endgültig aufgibt. Ich sehe Chancen bei Innovationen, nicht nur bei Produkten, sondern auch bei Prozessen. Ich erwarte beispielsweise, dass biobasierte Rohstoffe aufgrund der steigenden Nachhaltigkeitsanforderungen immer relevanter werden. Ein anderer positiver Effekt, den ich sehe, ist das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Veränderungen und Innovationen und dafür, dass der Status quo nicht zurückkehren kann.

Die Fragen stellten Alexander Schneider und Dr. Christof Walter

 


Paolo Bonamigo hat einen Master-Abschluss in Industrieller Chemie von der Universität Padua und arbeitete nach seinem Abschluss zunächst in der Kunststoffindustrie, unter anderem für Lebensmittelkontaktmaterialien. Er ist seit mehr als 10 Jahren in der Druckfarbenindustrie tätig, zunächst in technischen Funktionen, dann in Regulatory Affairs. Seit 2018 leitet er das europäische Team für Product Safety and Regulatory Affairs der Hubergroup. Bonamigo war in technischen Kommissionen beim italienischem Verband AVISA (Federchimica) tätig und nimmt derzeit an den TK-Druckfarben beim VdL und in verschiedenen Gruppen und Gremien auf CEPE- und EuPIA-Ebene teil. Paolo spricht Italienisch, Englisch, Deutsch und Spanisch.­