Mit seinem letztinstanzlichen Urteil hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Einstufung von Titandioxid in Pulverform als „vermutlich krebserzeugend beim Einatmen“ durch die Europäische Kommission abschließend für rechtswidrig erklärt. Das ist der erfolgreiche Schlusspunkt einer langen und Kräfte zehrenden Auseinandersetzung um das Weißpigment.
In den Rechtsmittelverfahren zur chemikalienrechtlichen Einstufung von Titandioxid hat der Europäische Gerichtshof am 1. August 2025 sein Urteil verkündet:
Die Einstufung von Titandioxid als beim Einatmen karzinogen wurde als rechtswidrig bestätigt; die gegen das Urteil des Gerichts der Europäischen Union eingelegten Rechtsmittel wurden zurückgewiesen.
Damit ist das erstinstanzliche Urteil des EuG, mit dem 2022 die Einstufung von Titandioxid für nichtig erklärt wurde, nun rechtskräftig entschieden. Das bedeutet, dass die Einstufung von pulverförmigem Titandioxid als „vermutlich krebserzeugend beim Einatmen“ ab sofort als von Anfang an nichtig gilt. Die Kommission wird die Anhänge zur CLP-Verordnung dementsprechend anpassen. Auch die Kennzeichnung mit den Warnhinweisen EUH 211 und EUH 212 kann ab sofort entfallen.
Nach Jahren des Streits und der Auseinandersetzung mit der Europäischen Kommission und ihrer ausführenden Behörden ist das Urteil nicht nur für Hersteller und Verwender des Weißpigments eine Genugtuung. Insbesondere für die Mitgliedsunternehmen CWS Powder Coatings und DAW als Kläger, aber auch für die Streithelfer Sto und Tiger Coatings ist das Ergebnis ein aufsehenerregender juristischer Erfolg.
Der Streit beginnt im Jahr 2016
Seit 2016 hat die Diskussion um das Weißpigment die europäische Chemikaliengesetzgebung beschäftigt und es sogar auf die Titelseite nationaler Medien geschafft. Bis dahin galt Titandioxid als unproblematisches, bewährtes Weißpigment, ein chemischer Allrounder, der wegen seines hervorragenden Deckungsvermögens in Kunststoffen, Textilien, Lebens- und Futtermitteln als Zusatzstoff, bei der Papierherstellung sowie in pharmazeutischen und kosmetischen Produkten zum Einsatz kommt. Vor allem wird Titandioxid aber wegen seiner Farbbrillanz als Pigment bei der Herstellung von Farben und Lacken eingesetzt.
Gerade in dieser Branche war daher die Verwunderung groß, als die französische Umweltbehörde bei der Europäischen Chemikalienagentur ECHA eine Einstufung als krebserzeugend beim Einatmen vorschlug. Zwei ältere Studien, bei denen Ratten extremen Staubmengen ausgesetzt waren und anschließend vereinzelt Tumore entwickelt hatten, wurden hierfür angeführt. Schnell kam es zum Streit: Betroffene Industrieverbände, aber auch andere EU-Mitgliedsstaaten, darunter Deutschland, lehnten eine Einstufung ab. Kritiker unterstellten der französischen Regierung politische Gründe. Die von zahlreichen Unternehmen, Verbänden und Institutionen getragenen Proteste führten an, dass die Studien mit Ratten nicht relevant für den Umgang mit Titandioxid seien.
Trotz aller Proteste wurde Titandioxid in Pulverform 2020 als Stoff „mit Verdacht auf krebserzeugende Wirkung beim Menschen durch Einatmen“ eingestuft.
Unstrittig war stets, dass Titandioxid immer fest in den Farbfilm eingebunden ist und folglich nicht mehr eingeatmet werden kann. Zuletzt ging es um Titandioxid in Pulverform mit einem Gehalt von mindestens einem Prozent Titandioxid in Partikelform oder eingebunden in Partikel mit einem aerodynamischen Durchmesser von höchstens zehn Mikrometer. Titandioxid wurde damit nicht verboten, musste aber mit einem Warnhinweis versehen werden.
Auch dies wollte man in der Wirtschaft nicht einfach akzeptieren: Hersteller und Unternehmen der Farbenbranche klagten, die Mitgliedsfirmen wurden vom VdL unterstützt.
Entscheidung in der 1. Instanz gibt Industrie umfassend Recht
Im November 2022 hatte dann das Gericht der Europäischen Union (EuG) entschieden, dass die harmonisierte Einstufung des Weißpigments als „vermutlich karzinogen beim Einatmen“ und die damit verbundene Kennzeichnungspflicht für den Stoff sowie pulverförmige, feste und flüssige Gemische rechtswidrig ist. Die Einstufung basiere wesentlich auf einer über 25 Jahre alten Inhalationsstudie an Ratten (der sogenannten „Heinrich-Studie“ von 1995). In dieser Studie traten Lungentumore erst bei sehr hohen Partikelkonzentrationen auf – also bei Mengen, die die natürliche Selbstreinigung der Lunge der Tiere überforderten. Solche Effekte gelten jedoch als Folge einer allgemeinen Überlastung des Atemsystems und nicht als direkte Wirkung des Stoffs selbst. Nach der CLP-Verordnung werden solche indirekten Wirkungen nicht als Nachweis für eine „intrinsische“ krebserzeugende Eigenschaft angesehen. Trotzdem hatte der RAC die Einstufung empfohlen, ohne systematisch zu prüfen, ob vergleichbare Effekte auch unter realistischen Arbeitsbedingungen auftreten können, oder wie unterschiedliche Annahmen zur Partikeldichte und -größe das Risiko beeinflussen würden.
Der EuGH beschränkt den Ermessensspielraum der Kommission
Die Kommission und Frankreich hatten daraufhin gegen das Urteil des EuG Rechtsmittel eingelegt. Da Rechtsmittel auf Rechtsfragen beschränkt sind, rügten sie insbesondere, dass das EuG die Grenzen der gerichtlichen Überprüfung überschritten habe und seine eigene Beurteilung an die Stelle jener der Europäischen Kommission bzw. des Ausschusses für Risikobeurteilung (RAC) der ECHA gesetzt habe. Nach der mündlichen Verhandlung Anfang November 2024 in Luxemburg schloss sich auch die Generalanwältin dieser Ansicht an und empfahl in ihren Schlussanträgen, den Rechtsmitteln stattzugeben.
Letztendlich aber erfolglos: Der Europäische Gerichtshof hat mit seinem Urteil vom 1. August 2025 im Wesentlichen die Einschätzung der Vorinstanz bestätigt und die erhobenen Rechtsmittel zurückgewiesen. Demnach habe das EuG keinen Rechtsfehler begangen, als es zu dem Schluss kam, dass der Ausschuss für Risikobeurteilung (RAC) nicht alle relevanten Informationen berücksichtigt habe, die für die Einstufung von Titandioxid entscheidend sind. Das Urteil stellt klar, dass die Einstufung von Stoffen auf einer sorgfältigen Prüfung aller wissenschaftlichen Aspekte beruhen muss und dass der Ermessensspielraum der europäischen Behörden nicht unbegrenzt ist.
Keine Entscheidung zur Intrinsik
Die zur Anforderung der „intrinsischen Eigenschaft“ erhobenen Rechtsmittel erachtet der Gerichtshof als nicht mehr entscheidungserheblich und führte hierzu nichts aus. Somit bleiben die klärenden Ausführungen des EuG zu diesen Merkmalen unwidersprochen. Auch wenn sich folgende Entscheidungen zur chemikalienrechtlichen Einstufung wohl an diesem Urteil orientieren werden, bleibt die Möglichkeit einer nachfolgenden EuGH-Entscheidung bestehen.
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Der aerodynamische Durchmesser
Der aerodynamische Durchmesser der Partikel war entscheidend für die Einstufung von sowohl reinen Titandioxidpulvern als auch pulverförmigen Gemischen, sofern sie titandioxidhaltige Partikel enthielten. Er beschreibt das Sinkverhalten von Partikeln in der Luft, nicht deren physische Größe. Bisher galt: Wenn Titandioxidpulver 1 % oder mehr titandioxidhaltige Partikel enthielt, das einen aerodynamischen Durchmesser von höchstens 10 μm hatte, war dieses Pulver oder die Pulvermischungen als kanzerogen einzustufen. Diese Produkte mussten dann den Warnhinweis H351, das Signalwort „Gefahr!“ sowie das Gefahrenpiktogramm GHS08 tragen.
Von einer Einstufung und den daraus folgenden Pflichten waren also nur noch die Hersteller von Pulverlacken betroffen. Der VdL veranlasste daher – koordiniert durch die Technische Kommission Pulverlacke – Untersuchungen, die Umfang und Reichweite etwaiger Kennzeichnungspflichten bei pulverförmigen titandioxidhaltigen Lacken feststellen sollten. Diese wissenschaftlichen Untersuchungen wurden durch ein unabhängiges, anerkanntes Institut an standardvermahlenem und ultradünnschichtvermahlenem Pulver durchgeführt. Weiterhin wurden titandioxidhaltige Abfälle, die in der Produktion und bei der Verarbeitung der Pulverlacke anfallen, untersucht.
Die Ergebnisse der Untersuchungen zeigen schnell, dass die untersuchten Pulverlacke und deren Abfälle nicht mehr als 1 Gewichtsprozent Titandioxid mit einem aerodynamischen Durchmesser ≤ 10 μm enthielten. Selbst in den feinkörnigsten Pulvern (Abfall bei der Herstellung) wurden solche Werte nicht erreicht (120-mal weniger als der ab Oktober 2021 anzuwendende Grenzwert von 1 %).
Basierend auf diesen Ergebnissen stand 2021 fest: Titandioxidhaltige Pulverlacke erfüllen nicht die in der CLP-Verordnung vorgesehenen Kriterien für die Einstufung als kanzerogen – somit waren auch die Hersteller von Pulverlacken nicht von der Einstufung betroffen.