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Corona ist auch für die Verbandsführung eine große Herausforderung

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Dr. Martin Kanert hat vor 100 Tagen die Hauptgeschäftsführung des VdL übernommen. Konjunkturprobleme, Titandioxid, Mikroplastik – „bumpy“ würden Briten die zurückliegenden Wochen nennen. Und mit der Coronakrise folgt nun auch für die Verbandsführung eine große Herausforderung. Wir haben den bekennenden Optimisten nach Zukunftskonzepten, Wünschen und Überraschungen befragt.
 

Herr Kanert, wir sitzen uns in einem Mindestabstand von zwei Meter gegenüber und wissen nicht, ob wir morgen an unsere Schreibtische zurückkehren werden. Viele Unternehmen haben die Tore bereits geschlossen. Hätten Sie sich je vorgestellt, dass ein Virus die Produktion der Lackunternehmen gefährdet?

Sogar vor einer Woche hätte ich es mir so nicht vorstellen können. Die Folgen der Pandemie werden immens sein. Aktuell haben viele unserer Mitgliedsunternehmen Pandemiepläne aufgesetzt, um die Produktion aufrechtzuerhalten. Neben der Sorge um die Gesundheit der Mitarbeiter treibt unsere Firmen natürlich die Furcht vor einem Absatzeinbruch um. Lieferketten sind teilweise bereits unterbrochen, und es gibt zum Teil dramatische Engpässe bei wichtigen Rohstoffen. Wir in der Verbandsgeschäftsstelle helfen, wo wir können: Kurzfristig haben wir ein Pandemie-Kapitel zum VdL-Krisenhandbuch ergänzt. In mehreren Schreiben haben wir an die politischen Entscheidungsträger in Europa und Deutschland appelliert, dafür zu sorgen, dass die Beschränkungen im grenzüberschreitenden Warenverkehr behoben werden, ferner gesetzliche Bestimmungen auszusetzen, die dazu beitragen können, die Verknappung an bestimmten Rohstoffen zu beheben.
 

Seit 100 Tagen sind Sie der neue Hauptgeschäftsführer des VdL. Als Motto gaben Sie zunächst „Kontinuität“ aus. Und dann folgt eine solche Herausforderung …

Ja, der VdL ist gut aufgestellt, und das gilt es zu bewahren. Das bedeutet aber auch, dass wir uns angesichts der Krise neu positionieren müssen. Wir werden die Politik mit aller Entschiedenheit darauf hinweisen, dass nach der Krise alle Kraft in den Aufschwung gesteckt werden muss, und etliche derzeit diskutierte Gesetzesinitiativen zunächst auf Eis gelegt werden müssen. Ich bin seit 25 Jahren beim Verband – das war schon immer so, dass man regelmäßig mit neuen, eigentlich unvorstellbaren Herausforderungen umgehen muss. So isses halt! (..)
 

100 Tage sind nicht viel Zeit. Besteht trotzdem schon die Möglichkeit für ein kurzes Resümee?

Durchaus. Natürlich ist es so, dass viele Dinge, die angestoßen waren, einfach fortgeführt werden müssen. Unsere politischen Topthemen sind ja nicht zu Ende wegen eines Wechsels des Hauptgeschäftsführers. Das muss in gleicher Intensität fortgeführt werden. So ist der Fall Titandioxid nur in eine andere Phase eingetreten. Hier schalten wir von der Politikberatung auf Informationsangebote an die interessierte Öffentlichkeit um. Und wir begleiten natürlich Mitgliedsunternehmen, die sich möglicherweise dazu entschließen, gegen die Entscheidung der EU-Kommission zu klagen. Andere Beispiele sind die „Giftinformationszentren“ oder Mikroplast k. Was wirklich neu ist in den 100 Tagen, ist der europäische „Green Deal“. Die EU-Kommission produziert hier in atemberaubender Geschwindigkeit Papiere, die wir zusammen lesen und darauf abklopfen müssen, was sie für unsere Mitglieder bedeuten.
 

Sie haben sich nach 25 Jahren Verbandsarbeit – vor allem im Bereich Druckfarben – entschieden, neue Verantwortung zu übernehmen. Wenn Sie sich mit drei Adjektiven beschreiben sollen, welche wären das?

Wer mich kennt, würde mich wohl als jemand beschreiben, der immer sehr pragmatisch handelt. Ich bin der Meinung, dass man immer orientiert an die Dinge herangehen sollte, denn sie kommen so, wie sie sind. Außerdem bin ich ein sehr teamorientierter Mensch. Ich baue auch hier im VdL mit unseren Mitarbeitern darauf, die Dinge im Team bewerkstelligen zu können. Denn wir haben hier ein fantastisches Team, in dem jeder für bestimmte Aufgaben zuständig ist und die Themen mit Energie und Leidenschaft bearbeitet. Schließlich halte ich mich für sehr dialogfähig. Auch in Bezug auf die Politik setze ich immer auf Dialogfähigkeit und würde es nie darauf ankommen lassen, einen Gesprächsfaden abreißen zu lassen.
 

Das waren perfekte Attribute für einen Manager. Aber wer ist der Mensch Marti n Kanert? Stellen Sie doch mal ihre Kulissen auf die Lebensbühne?

Auf einer Bühne würde bei mir als Hintergrund natürlich Kölscher Karneval stehen! Der dürfte nie fehlen. Was übrigens wichtig ist: Das passt perfekt zur Lack- und Farbenindustrie. Wichtig für mich ist immer – es muss bunt sein! Ich würde eine Bühne immer bunt gestalten. Dann habe ich auch einen katholisch- christlichen Hintergrund. Mein Studium wurde vom Cusanuswerk unterstützt. Das hat mein Leben natürlich stark beeinflusst, die Förderung in diesem katholischen Begabtenförderungswerk war sehr interdisziplinär. Es war für mich dabei immer sehr interessant, was andere Disziplinen machen, vor allem im philosophischen und theologischen Bereich. Das hat bis heute einen Einfluss darauf, wie ich als Mensch auf die Dinge schaue und wie ich die Dinge gestalte. Daher würde ich mich auch als gläubigen Naturwissenschaftler bezeichnen.

Wenn es einen dritt en Hintergrund gibt, dann wohl die Chemie. Das Studium ist zwar Jahrzehnte her, wenn man aber mit Kollegen zusammen ist, merkt man wie wichtig der chemische Hintergrund doch ist. Man ordnet die Dinge einfach schneller ein. Und was man als Naturwissenschaftler auch gelernt hat ist, dass man an die Dinge sehr analytisch herangeht. Das hilft und passiert fast intrinsisch.
 

Sie haben fast ihr gesamtes Berufsleben in der Farbenbranche verbracht, was ist für Sie das Fesselnde an dieser Industrie?

Toll ist diese Vielfalt an Tätigkeiten und Produkten. Das gilt für den Verband wie für die Branche: Wir beginnen im „Großen“ bei den Schiffsfarben und gehen bis hinein ins „Kleine“ zu den Doseninnenlacken. Beides bietet komplett unterschiedliche Problemstellungen. Ich habe angefangen bei den Druckfarben und die vielfältigen Anforderungen, die dort kollektiv auf die Branche zukommen, waren immer spannend. Aber alles wird immer schneller.
 

Ist „Verband“ nicht altmodisch?

Es kommt drauf an, was man unter Verband versteht. Natürlich gibt es altmodische, betuliche Verbände. Aber ich würde für den VdL in Anspruch nehmen, dass wir das nie waren, und uns besonders in den letzten Jahren zu einem sehr, sehr modernen Verband entwickelt haben. Angefangen von der traditionellen Politikberatung bis zur völlig neu aufgestellten Kommunikation: Wir haben einen modernen öffentlichen Auftritt, der eine innovative, zukunftsorientierte Branche präsentiert. Sicher sind die Zeiten schneller und individueller geworden. Man muss immer zusehen, dass man sich im Sinn der Unternehmen positioniert und stets rückkoppelt. Aber es macht die Erfahrung einer Verbandsgeschäftstelle aus, dass sie die grobe Richtung schon kennt, wenn man schnell reagieren muss.
 

Stichwort Interessenwahrnehmung – Lobbyist gilt inzwischen fast als Schimpfwort, trifft Sie das?

Auch bei mir im Bekanntenkreis werden da Klischees genannt. Ich versuche dann begreiflich zu machen, was eigentlich unsere Arbeit ist: Moderne Politikberatung macht aus, dass der Gesetzgeber ein Schutzziel entwickelt. Dieses Schutzziel greifen wir als Verband meist gar nicht an. Unsere Aufgabe ist, den Gesetzgeber darauf hinzuweisen, wie er dieses Ziel möglichst umfassend, effizient, aber für die Industrie eben auch kostengünstig – in einem Wort: praktikabel – erreichen kann. Die Politik ist dafür meist dankbar.
 

Die große Ausnahme war Titandioxid?

Da gebe ich Ihnen Recht. Aber auch da haben wir das Staubproblem anerkannt. Aber die europäische Politik hat entgegen unserem Rat gehandelt und zum falschen Mittel gegriff en. Das heißt nicht, dass wir das übergeordnete Schutzziel „richtiger Umgang mit Stäuben“ auf EU-Ebene nicht anerkennen würden.
 

Das führt uns nach Europa. Hier sind Sie als Geschäftsführer des europäischen Druckfarbenverbandes EuPIA schon lange vernetzt. Welche Bedeutung hat die EU für den VdL?

Europa hat eine entscheidende Bedeutung für unsere Mitglieder. Die EU stellt über einheitliche Regelungen den Binnenmarkt sicher, von dem wir alle profitieren. Bestimmt 80 Prozent der Regelungen im Bereich Gesundheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz kommen aus der EU und werden dann in Deutschland umgesetzt. Auch die Topthemen des Verbandes sind fast immer europäisch und werden in Brüssel getrieben. Deshalb ist auch die Zusammenarbeit mit CEPE so wichtig. Gemeinsame Positionierung, mit einer Stimme sprechen, jeder gegenüber den politischen Entscheidungsträgern, für die er zuständig ist, das ist das Rezept. Für die Druckfarben war immer hilfreich, dass ich die Anliegen europäisch koordinieren und in Europa und Deutschland vertreten konnte.
 

Gibt es für Sie den europäischen „Bürokratie-Irrsinn“ überhaupt?

Ich verstehe, was damit gemeint ist. Aber wenn man solche Vokabeln verwendet, läuft man Gefahr, dass man seine Dialogfähigkeit verliert, und daher meide ich sie. Definitiv gibt es sinnleere, überbordende Regelungen. Hier müssen wir mit der Politik sprechen und darauf bestehen, Regelungen praktikabel auszugestalten. Ein Beispiel dafür sind die angedachten Meldungen an die „Giftinformationszentren“. Wir haben immer auf diese unsinnige Flut an Meldungen hingewiesen, die sich aus den ursprünglichen Überlegungen der Kommission ergeben hätt e. Jetzt gehen wir wenigstens einen Schritt zurück, hin zum Pragmatismus.
 

Der VdL ist der größte Farbenverband in Europa. Muss er bei solchen Problemen in der Branche eine Führungsrolle übernehmen?

Es kommt darauf an, was man unter „Führung“ versteht. Wenn das bedeutet, dass man deutsche Vorpositionierungen europäisch durchsetzen will, gehen viele andere verständlicherweise auf Distanz. Aufgrund seiner Größe haben der VdL und seine Mitgliedsunternehmen aber eine breite Expertise, und die muss er in den europäischen Gremien einbringen. Ich glaube, das machen wir schon sehr, sehr gut. Unsere Argumente machen wir oft mehrheitsfähig und tragen damit zur europäischen Positionierung bei. Es geht immer um die besten Argumente, nicht um eine Meinungsführerschaft.
 

Die Farbenindustrie fühlt sich zurzeit gebeutelt – in Europa, in Deutschland, wirtschaftlich wie politisch. Was muss geschehen, damit die Konjunktur wieder anzieht, oder wie sind die richtigen Weichen zu stellen?

Jetzt müssen wir erstmal durch die Coronakrise kommen. Aber dann: Die Zeichen in der EU sind jetzt auf „Green Deal“ gestellt. Das bietet Chancen und Risiken. Ein Beispiel: Im Bausektor können Unternehmen wegen geplanter, veränderter Renovierungszyklen sehr profitieren. Vieles bleibt abzuwarten. Aber auf solche Beispiele werden wir aufsatteln und daraufsetzen, dass solche begrüßenswerten Ideen auch in konkrete Programme gegossen werden.
 

Vieles könnte dazu führen, dass die Branche auch ihre Geschlossenheit unter Beweis stellen muss – Stichwort Kampagnenfähigkeit.

90 Prozent der über 200 Farbenunternehmen in Deutschland sind Mitglied im VdL. Eine fantastische Organisationsquote. Die Firmen sind freiwillig Mitglied, und ihre Anzahl zeigt, wie zufrieden sie mit uns sind. Aber in der Tat gibt es einige Unternehmen, die unser Leistungsportfolio als moderner, effizienter und zukunftsorientierter Verband bislang nicht für sich nutzen wollen. Da gilt es, weiterhin Überzeugungsarbeit zu leisten.
 

Apropos Zukunft, man nennt Sie auch Mr. Druckfarbe. Muss man sich um die Druckfarben Sorgen machen?

Das sehe ich nicht so. Sicher, es gibt Probleme im Publikationsdruck. Der Markt für Publikationsdruckfarben schrumpft stetig. Ich bin überzeugt: Es wird zwar immer gelesen werden, aber das wird sich auf einem niedrigen Niveau einpendeln. Der Verpackungsdruck hingegen entwickelt sich nach wie vor gut, auch wenn das Wachstum für Verpackungsdruckfarben zuletzt fl ach verlief. Aber: Verpackt wird immer! Und dann muss die Verpackung auch bedruckt werden.
 

Apropos Überraschungspaket: Was würden sie sich für die Branche wünschen?

Ich würde mir für den „Verband VdL“ wünschen, dass das gute und konstruktive Miteinander der Experten unserer Mitgliedsunternehmen, das die Arbeit im VdL ausmacht, weiter so funktioniert, auch wenn die Zeiten härter werden sollten.
 

Und zum Schluss: In welcher Farbe wäre dieses Wunschpaket verpackt?

In meiner Lieblingsfarbe Orange!